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Umstrittene Ernährungsregeln Low-Fat und High-Carb - ist das wirklich gesund?

Viele Kohlenhydrate, wenig Eiweiß, fettreduziert: So sieht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zufolge gesunde Kost aus. Doch seit etlicher Zeit regt sich Kritik: Stimmen die Empfehlungen noch?

Wer vollwertig isst, hält sich gesund. Aber was ist darunter zu verstehen? Für alle, die im Ernährungsdschungel Orientierung suchen, hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) zehn Regeln  für eine gesunde Ernährung herausgegeben. Sie empfiehlt darin unter anderem reichlich Getreideprodukte und Kartoffeln, wenig Fett und fünfmal Gemüse und Obst am Tag. Die Empfehlungen seien "auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse" formuliert, schreibt die DGE.

Doch an den Empfehlungen regt sich Kritik. "Die zehn Regeln sind veraltet und überholt", sagt Johannes Scholl, Vorsitzender der Deutschen Akademie für Präventivmedizin.

Auch Matthias Riedl vom Bundesverband Deutscher Ernährungsmediziner ist überzeugt: "Die Regeln sind nicht nur schwer umsetzbar. Sie sind in der Praxis auch nicht hilfreich und gehen am Problem vorbei."

Was also ist empfehlenswert?

Die DGE rät zu einem ausgedehnten Kohlenhydratverzehr und zu wenig Fett und Eiweiß. So sollen etwa "Brot, Getreideflocken, Nudeln und Reis, am besten aus Vollkorn, sowie Kartoffeln" oft auf den Teller kommen. Dazu "Milch und Milchprodukte täglich, Fisch ein bis zweimal in der Woche, Fleisch und Wurstwaren sowie Eier in Maßen". Bei Fleisch und Milch seien "fettarme Produkte zu bevorzugen".

Die Obergrenze für den gesamten Fettkonsum sollte laut DGE bei 30 Prozent der Tages-Energiemenge liegen, wobei "pflanzliche Öle und Fette" zu bevorzugen sind. Zu viele gesättigte Fettsäuren, wie sie etwa in Fleisch, Wurst, Käse oder Butter vorkommen, seien hingegen zu meiden, da sie das Risiko für Fettstoffwechselstörungen und in der Folge Herz-Kreislauf-Krankheiten erhöhen würden.

Gemacht sind die DGE-Empfehlungen für gesunde Bundesbürger. "Stoffwechselgesunde sind in der Bevölkerung allerdings längst in der Minderheit", sagt Scholl. "Mehr als jeder zweite Bundesbürger ist übergewichtig oder gar adipös, sehr viele dieser Menschen haben eine Insulinresistenz und eine Fettleber." Und die überwiegende Mehrheit treibe zu wenig Sport. "Wenn dann eine Kantine nach DGE-Regeln kohlenhydratreich kocht, wird alles nur schlimmer", so der Mediziner. "Das Abnehmen wird erschwert, die Entwicklung von Diabetes begünstigt."

Scholl ist auch überzeugt: "Schon die Kindergärten geben heute falsche Ernährungsempfehlungen." Denn auch bei den Jüngsten zeigten sich bereits Probleme wie Übergewicht und Bewegungsmangel. "In einer Gesellschaft, die sich körperlich nicht mehr ausreichend betätigt, muss der Anteil der Kohlenhydrate sparsamer dosiert sein, um ernährungsbedingten Krankheiten vorzubeugen", betont auch Riedl.

Weniger Kohlenhydrate für Vielsitzer

Eine, die ganz praktisch am Alltag mit den veralteten Regeln zu kämpfen hat, ist die Diätassistentin Daniela Kluthe-Neis. Damit ihre präventiven Kurse bei Krankenkassen gelistet, bezuschusst oder erstattet werden, muss sie sich nach den DGE-Empfehlungen richten. "Allerdings ist dem Großteil meiner Klienten damit nicht geholfen, sie würden noch dicker", sagt sie. "Und ich kann nichts anbieten, wovon ich selbst nicht überzeugt bin, nur damit ich es abrechnen kann."

Foto: Armin Weigel/ dpa

Ein Dilemma, das auch andere Ernährungsfachkräfte kennen. Kluthe-Neis hat daher gemeinsam mit einer Kollegin eine Onlinepetition  gestartet. Darin fordert sie eine Aktualisierung der DGE-Empfehlungen. Denn auch andere Punkte der zehn Regeln sind nach Ansicht von Fachleuten veraltet - "und das auch für Gesunde", so Scholl. So habe eine Studie gezeigt , dass weniger Fett in der Nahrung die Herzinfarkt- oder Schlaganfall-Rate oder die Sterblichkeit nicht senkt. Gute Fette (einfach und mehrfach ungesättigte Fettsäuren wie sie in Leinöl, Rapsöl, Olivenöl, Nüssen oder fettem Fisch vorkommen) können sogar schützen.

Doch wer sich fettarm ernährt, läuft Gefahr, auch von diesen Fetten zu wenig zu sich zu nehmen. "Eine stumpfe Fettreduktion bringt keinen gesundheitlichen Vorteil", betont Riedl. Das Gegenteil ist sogar der Fall: "Wer auf Fett verzichtet, greift in der Regel zu mehr Kohlenhydraten", so der Mediziner. Er ist daher überzeugt: "Die Brandmarkung von Fetten insgesamt und gesättigten Fettsäuren ist nicht mehr zeitgemäß."

Streit ums Fett

Besonders bei den gesättigten Fettsäuren tobt schon lange ein Streit unter Ernährungsexperten. Jahrzehnte wurde gewarnt: Zu viel Butter, Käse, rotes Fleisch und Wurst schaden dem Herz. Die darin enthaltenen gesättigten Fettsäuren erhöhen den Cholesterinspiegel, verschieben das Verhältnis von "gutem" HDL-Cholesterin zu "schlechtem" LDL-Cholesterin und lassen somit das Risiko für Herz- oder Hirninfarkt steigen. So lautete die gängige Meinung.

Doch das Bild ist längst nicht so klar . Etliche Ernährungsforscher fordern, gesättigte Fettsäuren nicht mehr generell zu verteufeln. Dariush Mozaffarian von der Tufts-Universität in Boston etwa rät: Nicht einen einzelnen Nährstoff verbannen, sondern sich die Lebensmittel genauer anschauen, in denen er vorkommt. Und deren Zusammensetzung bewerten. Eine bestimmte gesättigte Fettsäure in der Milch etwa könnte Herz und Gefäße sogar schützen. Rotes Fleisch und Butter wirken sich offenbar kaum auf das Risiko für koronare Herzkrankheiten aus, zeigen in Studien aber auch keine Gesundheitsvorteile. Stark verarbeitetes, also durch Vorgänge wie Salzen, Räuchern oder Pökeln haltbar gemachtes Fleisch und Wurst sind schlecht für die Gefäße.

Warnung vor Zucker

"Fettarme Produkte sind unnötig, besonders bei Milch und Milchprodukten", sagt Scholl. "Und die übertriebene Vorsicht vor Eiern ist ebenfalls unbegründet." Ihr Verzehr beeinflusse den Cholesterinspiegel im Blut bei den meisten Menschen nur unwesentlich.

Die US-Amerikaner empfehlen daher nicht mehr, auf cholesterinarme Lebensmittel zurückzugreifen. Auch eine Obergrenze für den Gesamtfettanteil der Nahrung ist in den 2015 aktualisierten US-Ernährungsleitlinien nicht mehr enthalten . "Gewarnt wird stattdessen vor zugesetztem Zucker und raffinierten Kohlenhydraten", so Scholl. Letztere kommen etwa in Weißmehlprodukten oder weißem Reis vor und treiben den Blutzuckerspiegel schnell in die Höhe.

Auch die sogenannten Transfette, die etwa in Frittiertem wie Pommes oder industriell gefertigten Backwaren stecken und - hier besteht Einigkeit - für die Gesundheit nachgewiesener Maßen schädlich sind, will die US-Behörde zur Überwachung von Arznei- und Lebensmitteln (FDA) bis 2018 aus allen Lebensmittel verbannen .

Hintergründe zu den Studien

In den Ernährungswissenschaften sind Beobachtungsstudien häufig. Diese lassen allerdings keine kausalen Rückschlüsse zu. Anders ist es bei sogenannten Interventionsstudien, die untersuchen, wie sich eine bestimmte Ernährungsweise tatsächlich auswirkt. Zwei dieser Studien sorgten in den vergangenen Jahren für Aufsehen:An der WHI-Untersuchung (Women's-Health-Initiative) nahmen knapp 50.000 Frauen teil, etwa die Hälfte senkte ihren Fettverzehr um 8,2 Prozent. Der Verzicht wirkte sich allerdings nicht auf die Häufigkeit von Herzinfarkt oder Schlaganfall aus. Auch die Sterblichkeit sank nicht. An einer anderen Studie (PREDIMED) nahmen etwa 7500 Probanden mit erhöhtem kardiovaskulären Risiko teil. Ein Teil ernährte sich - ähnlich den DGE-Empfehlungen - kohlenhydratlastig mit mehr Brotprodukten, Pasta, Kartoffeln oder Reis, fettreduzierten Milchprodukten, fettarmem Fleisch und Fisch und höchstens zwei Esslöffeln Olivenöl täglich. Die anderen Gruppen hielten sich an eine Mittelmeerdiät  mit etwa doppelt so viel Olivenöl oder einem täglichen Nussmix (30 Gramm). In diesen Gruppen traten vor allem Schlaganfälle, aber auch Herzinfarkte etwas seltener auf.Allerdings steht die Untersuchung auch in der Kritik: Ein Großteil der Forscher gibt Verbindungen zur Industrie an, wobei diese betonen, dass es sich nicht auf Design und Ergebnisse der Studie ausgewirkt habe. Und auch Scholl ist überzeugt: Die Untersuchung ist "das bisher Beste, was als Ernährungsstudie unter 'Real-Life'-Bedingungen möglich ist".

Eiweiß macht satt

Umstritten ist auch die Empfehlung der DGE, den Eiweißanteil in der Ernährung auf höchstens 15 Prozent zu beschränken. "Eiweiß hält lange satt, hilft daher beim Abnehmen und ist gut für den Muskelaufbau", sagt Riedl. "Gerade ältere Menschen haben einen höheren Bedarf. Sie sollten bei jeder Mahlzeit Quark, Käse, Geflügel oder Fisch dabeihaben." Lediglich Nierenkranke müssen vorsichtig sein.

Darüber hinaus sei der Rat "Obst und Gemüse - Nimm 5 am Tag" zwar gut gemeint, so Scholl. Aber: "Auch hier muss zwischen Obst und Gemüse unterschieden werden." Denn Obst ist zwar gesund, enthält aber auch, je nach Sorte, reichlich Fruchtzucker. "Sie können sich auch mit fünf Gläsern Orangensaft am Tag die Fettleber antrinken", sagt der Mediziner. Nicht zuletzt sind sich Ernährungsexperten heute einig, dass der Körper von Nahrungspausen profitiert.

"Die '5-am-Tag' kann weg und Obst muss als Zuckerlieferant mit betrachtet werden", sagt auch Tilman Grune, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung (Dife) und zugleich Mitglied im wissenschaftlichen Präsidium der DGE. Er glaubt auch, dass der Anteil an Eiweiß in den Ernährungsempfehlungen in den kommenden Jahren nach oben korrigiert wird - "zulasten der Kohlenhydrate". Allerdings betont Grune, dass sich die DGE-Empfehlungen an Gesunde richten. "Wobei das vielleicht eine zu eingeschränkte Sichtweise ist, und wir uns den gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen müssen."

DGE kündigt Überarbeitung an

Auch die DGE hat mittlerweile auf die anhaltende Kritik reagiert. "Wir sind derzeit dabei, die zehn Regeln zu überarbeiten", sagt Antje Gahl, Pressesprecherin und Ernährungswissenschaftlerin bei der DGE. Mit der Zentralen Prüfstelle für Prävention, die für die Anerkennung und Freigabe von Kursen verantwortlich ist, stehe man ebenfalls im Austausch.

Über die Neuerungen kann Gahl noch nicht viel sagen. "Das wird noch diskutiert." Eventuell passe man die Eiweißzufuhr und die Hinweise beim Milchfett an. Ob sich die Gesellschaft darüber hinaus beim Thema Fett bewegt, ist fraglich: "Die komplette Abkehr von den derzeitigen Empfehlungen zur Fettzufuhr erscheint uns nicht sinnvoll, da in vielen Bereichen die Studienlage immer noch unzureichend ist", so die Sprecherin.

Eine Aussage, die insofern überrascht, da in der 2015 überarbeiteten Leitlinie Fett der DGE zu lesen ist: "Die Zufuhr von gesättigten Fettsäuren wirkt sich mit wahrscheinlicher Evidenz nicht auf das Risiko für Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, Schlaganfall und Krebs aus." Salopp formuliert, ist dort zudem festgehalten : Wer auf die Kalorienbilanz insgesamt achtet und nicht Völlerei betreibt, muss auch das Fett nicht fürchten.

Freispruch für Fette kritisch beäugt

Auch beim Cholesterin teilt die DGE die Ansicht der Amerikaner nicht ganz. "Wir betrachten den Freispruch noch kritisch", sagt Gahl. Cholesterinreiche Lebensmittel hätten zwar nur einen moderaten Einfluss auf die Cholesterinwerte im Blut. Aber: "Es gibt einen kleinen Teil an Menschen, der genetisch bedingt auch auf wenig Cholesterin in der Nahrung stark reagiert." Und: "Zehn Eier in der Woche sind möglicherweise doch einfach zu viel."

Grundsätzlich sei das Nährstoffverhältnis noch immer korrekt, ist Gahl überzeugt. Offenbar sei die Kommunikation missverständlich, man dürfe "es nicht so starr verstehen. Wenn wir mehr als 50 Prozent Kohlenhydrate empfehlen", so Gahl, "meinen wir damit nicht, dass mehr Zucker und Stärke gegessen werden soll, sondern ballaststoffreiche Lebensmittel wie Hülsenfrüchte oder Vollkorn."

Scholl empfindet das als "Ausweichen in den entscheidenden Fragen". Er plädiert allerdings nicht für eine strikte Low-Carb-Ernährung. "Der Kohlenhydratverzehr ist an die Stoffwechselsituation des Einzelnen anzupassen."

Grob gesagt bedeutet das: Wer sich nicht viel bewegt, sollte nicht aufs Fett fokussieren, sondern in erster Linie Zucker und Lebensmittel streichen, die den Blutzuckerspiegel schnell in die Höhe treiben.

Stattdessen empfiehlt der Mediziner, bevorzugt folgende Nahrungsmittel zu sich zu nehmen:

  • reichlich Gemüse (möglichst wenig stärkehaltiges) und Salat
  • in Maßen Obst
  • ausreichend eiweißhaltige Lebensmittel wie Fisch, Geflügel, Fleisch und Milchprodukte sowie
  • gute Fette (etwa Olivenöl und Nüsse)

Um die gesättigten Fettsäuren müsse sich dann niemand sorgen. Für die Kohlenhydrate aber gelte: "Sparsam und dann tatsächlich am besten Vollkorn", so Scholl. "Wer regelmäßig Sport macht, darf sich hingegen auch den Teller Nudeln extra gönnen."

Von der DGE erhofft sich der Mediziner, dass sie sich bei der Überarbeitung der zehn Regeln an den neuen Erkenntnissen orientiert - und "sich von Überholtem endlich trennt".